Amel Cviko ist Spezialist für Agilität und unterstützt mittelständische Unternehmen bei der Optimierung von Organisationsstrukturen. Im Interview mit RATIO kompakt erläutert der RKW BW-Fachberater die Vorteile von agilen Organisationen – und was man bei der Einführung beachten sollte. Er betont: „Im Kampf um schlaue Köpfe ist eine agile Organisation ein Wettbewerbsvorteil.“

Mut zum Risiko, Mut zur Veränderung

RATIO kompakt: Mittelständische Unternehmen werden in der Regel hierarchisch geführt, und viele von ihnen sind damit in der Vergangenheit erfolgreich gewesen. Was macht den Erfolg aus, was sind die Vorteile?

Amel Cviko: Der Mittelstand ist ein Aushängeschild und Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft. Dahinter stecken Unternehmerinnen und Unternehmer, die den Mut hatten, ein Unternehmen zu gründen bzw. zu starten. Neben Mut gehören Know-how und vor allem Einsatz, Einsatz und noch mal Einsatz, um eine Unternehmung erfolgreich zu starten und vor allem erfolgreich zu halten. Damit auch nichts schief geht und der Kunde glücklich ist, gehen in der Regel alle Entscheidungen über den Unternehmer. Vor allem in den Anfängen einer Unternehmung, mit noch überschaubaren Mitarbeiterzahlen und Projekten, ist die Agilität und Flexibilität des Unternehmers sehr attraktiv für Kunden. Mit der Zeit wächst das Unternehmen und damit auch die Organisation. Natürlich klassisch hierarchisch, denn das ist heute noch die übliche Form einer Organisation. Die Aufgaben werden auf mehreren Schultern verteilt, aber der Unternehmer ist noch tief drin, spricht zum Teil bei der kleinsten Schraube mit. Man kann auch sagen, dass nichts dem Zufall überlassen wird. Der Unternehmer möchte so sicherstellen, dass auch ja nichts schief geht, zu viel Geld ausgegeben wird und jede Minute effizient gearbeitet wird. Ohne größere Reibungsverluste werden die Entscheidungen und notwendigen Richtungswechsel befolgt. Der Vorteil liegt also darin, dass die Organisation schnell und flexibel, den Vorstellungen des Unternehmers nach, auf den richtigen Pfad geführt wird. Der Erfolg zeigt sich in qualitativ hochwertigen, innovativen Produkten, Liefertreue und damit Wettbewerbsvorteilen bis zu den zahlreichen Weltmarktführern. Um es auf dem Punkt zu bringen, hat der typische deutsche Mittelständler viel geschafft mit wenig Ressourcen. Besonders im Vergleicht zu großen Konzernen.

Viele Mittelständler kommen mit dieser Organisationsform heute an ihre Grenzen. Warum?

Das hat aus meiner Sicht drei Hauptursachen. Kein Mensch ist allwissend und schon gar nicht allmächtig. Dementsprechend sind irgendwann das Unternehmen und seine Organisation zu groß geworden, damit es noch klassisch, auf eine oder wenige Personen zugeschnitten, effizient agieren kann. Aus Agilität, Flexibilität und Ordnung wird Trägheit, Mutlosigkeit oder sogar Chaos. Die Organisation hat sich nicht weiterentwickelt und ist zu sehr hierarchisch und personenbezogen. Das ist eine Ursache, die ich regelmäßig bei meinen Kunden erlebe. Die zweite und weitreichendere Ursache ist die Entwicklung der Märkte, die durch eine enorme Dynamik geprägt sind. Stichworte sind Digitalisierung, Industrie 4.0, Big Data und so weiter. Speziell im Bereich der Spitzentechnologien werden dadurch die Anforderungen immer unschärfer. Sie entwickeln sich dynamisch im Rahmen des Projektes weiter und damit auch das Produkt und in diesem Zusammenhang auch die zu beherrschende Komplexität. Die Dynamik wird somit direkt in die Projekte übertragen. Hier kommen die klassischen Organisationsformen zunehmend an ihre Grenzen. Kaum wurden Prioritäten und dementsprechend die Ressourcen verteilt, ändert sich dies auch schon. Jetzt heißt es wieder umpriorisieren und umverteilen. Die ganze Organisation benötigt wieder Input der Entscheidungsträger. Einer oder nur wenige allein können diese Dynamik nicht beherrschen. Sie und ihre Organisation sind dann überfordert. Die dritte Ursache ist dann die vermeintliche Antwort auf diese Dynamik, nämlich das Aufblähen einer klassischen Organisation. Durch mehr Verwaltung und Bürokratie bzw. Unterstützungsfunktionen und Unterstützungsrollen will man der Komplexität Herr werden. Das führt dann zur Verkomplizierung der Organisation und nicht zur Beherrschung der Komplexität. Aus einem Unternehmer, der agil und flexibel seine Ressourcen auf die Bedürfnisse seiner Kunden ausrichten konnte, ist eine komplizierte und der Dynamik nicht mehr gerecht werdende Organisation geworden.

Agilität scheint das richtige Rezept zu sein. Was verstehen Sie darunter und was sind die Vorteile, wenn Unternehmen agil werden?

Agilität ist aus meiner Sicht ein essenzieller Baustein, wenn es um die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens und seiner Organisation geht. Ich erkläre es meinen Kunden immer so, dass es darum geht, so wie zu Beginn zu sein, als das Unternehmen überschaubar war und die Organisation sich schnell und unmittelbar auf Kundenwünsche, -vorgaben und -änderungen einstellen konnte. Natürlich gehört zu Agilität mehr, im Kern das Zusammenspiel zwischen Werten, Prinzipien und Methoden, doch die Wirkung ist die gleiche. Der Unternehmer und die Entscheidungsträger können sich nicht klonen. Und selbst dann würden diese sich, in der zentralistisch starren Organisation, aufreiben. Agilität setzt auf Dezentralisierung und damit auf eine hohe Autonomie der Mitarbeiter. Nur so kann die Dynamik beherrscht werden. Gleichzeitig heißt Autonomie nicht Chaos, und jeder macht was er will. Zu einer agilen Organisation gehört auch ein agiles Management. Dieses setzt durch Visionen und Ziele den notwendigen Rahmen, damit alle in die gleiche Richtung laufen. Agilität ist nicht nur eine Methode, wie zum Beispiel Scrum, wird aber häufig so betrachtet.Die Vorteile einer agilen Organisation sind zum einen in dem erheblich geringeren Koordinationsaufwand zu sehen, da sich Teams und Mitarbeiter selbst organisieren, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Und zum anderen führt dieser Punkt auch zu höherer Motivation und Innovationsfähigkeit der Mitarbeiter. Das hat man klar und deutlich von den Tech-Unternehmen gelernt. Im Kampf um schlaue Köpfe ist eine agile Organisation ein Wettbewerbsvorteil.

Sollen hierarchische Organisationsformen einfach über Bord geworfen werden, und alles wird gut? 

Eine Grundstruktur wird auch in einer agilen Organisation vorhanden sein. Es gibt keine kritische Größe für Agilität, die Mitarbeiterzahl ist also nicht entscheidend. Google oder Apple würde ich als agile Unternehmen bezeichnen, und die haben relativ viele Mitarbeiter, besonders aus der mittelständischen Perspektive. Gleichzeitig wird alles, was diese beiden Unternehmen physisch produzieren (iPhone von Apple oder Pixel von Google) von Partnerunternehmen gefertigt, die sehr hierarchisch organisiert sind. Das ist aus meiner Sicht ein Modell, das auch innerhalb eines Unternehmens als eine mögliche Lösung angesehen werden kann. In den kreativen und der Dynamik unmittelbar ausgesetzten Bereichen - beispielsweise Vertrieb, Forschung, Entwicklung, Konstruktion, Projektmanagement - sollte die Zielsetzung flache Strukturen, maximale Autonomie und damit Agilität sein, während beispielsweise im Bereich Operations noch viele Routineaufgaben von definierten Teams durchgeführt werden – diese Teams sollten also hierarchisch strukturiert sein. Die Herausforderung hierbei ist, dass die eine Seite die andere nicht ausbremst und umgekehrt die eine Seite die andere nicht verwirrt. Dieses Problem ist aber lösbar.

Den Erfolg eines Unternehmens machen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus. Wie gewinnt man die Belegschaft, wenn man die Organisation an neue Herausforderungen anpassen muss?

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen den Erfolg eines Unternehmens aus, und das unabhängig von der Organisationsform. In einer agilen Organisation ist diese Aussage exponentiell höher zu bewerten. Am Anfang gilt der Satz, dass sich niemand gerne verändert. Aus diesem Grund sollte die Veränderung aktiv gemanagt werden, Stichwort: Changemanagement. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, dass die Dynamik der Veränderung höher sein muss als die Trägheit, die durch die Widerstandkräfte resultiert. Dafür müssen die Mitarbeiter von Anfang an einbezogen werden, die Umsetzung sollte kontinuierlich greifbare Ergebnisse liefern und Probleme sollten als Teil der Veränderung gesehen werden. Langatmige Projektabschnitte ohne Ergebnisse sind kontraproduktiv. 

Solche Anpassungsprozesse sind nicht ohne Risiko. Was kann alle schief gehen? Wie können Risiken beherrscht oder zumindest begrenzt werden?

Veränderungen bergen immer auch Risiken. Die Veränderung hin zu einer Agilen Organisation ist ein Kulturwandel mit großer Tragweite für das Unternehmen, in der aber die Chancen überwiegen. Das erste, was schief gehen kann ist, dass das nicht verstanden wird. Zweitens, der Unternehmer und das Management meinen, dass die Mitarbeiter agil werden müssen und schließen sich selbst nicht ein. Es kommt dann zu so einer Art Pseudoagilität, die den Mitarbeitern Agilität suggeriert, aber beim Wesentlichen, der Selbstorganisation und Autonomie, schon scheitert. Das ist Gift für die positive Dynamik. In diesem Zusammenhang passiert es auch oft, dass beispielsweise Scrum als Methode in einem Pilot-Projekt eingeführt wird und das Management von einer großen Veränderung spricht. Drittens, Agilität wird zu abstrakt gehypt, ich bezeichne das als überhochgejubelt. Alles was passiert, wird irgendwie mit Agilität in Verbindung gesetzt, ob positiv oder negativ. Es dient dann als Entschuldigung für alle möglichen Fehltritte, die in der „alten“ Welt als Fehler, Problem oder Fehlverhalten interpretiert würden.

Um diese Risiken beherrschen zu können, muss zunächst ein gemeinsamer Sinn der Veränderung herausgearbeitet werden. Das Unternehmen und seine Mitarbeiter müssen verstehen, warum sie sich verändern sollen. Im nächsten Schritt wird dann Agilität für das Unternehmen und seine Organisation definiert. Aus einer abstrakten Sache, die bei irgendwelchen Softwarefirmen gelebt wird, sollte ein nachvollziehbarer Rahmen für die zukünftigen Organisation beschrieben werden, die zwar Raum für Zieldefinitionen und Anpassungen gibt, jedoch die Richtung vorgibt und die Einzigartigkeit des Unternehmens berücksichtigt. Wird jetzt die positive Dynamik permanent aufrecht gehalten, bröckeln mehr und mehr die Widerstandskräfte und die Trägheit wird konstant geringer. Diese positive Dynamik wird durch ein Projekt nach dem anderen, mit mehr und mehr agilen Elementen, erzeugt. Also eben gerade nicht durch ein Pilotprojekt, das ewige Analysen und Diskussionen hervorruft. Da verpufft schnell die Dynamik, und die Trägheit wirkt später umso stärker. Aus meiner Sicht reduziert es auch die Gefahr des Überhypens.

Mein Appel: Mut zum Risiko, Mut zur Veränderung. Sonst wird aus Mut zur Veränderung Zwang zur Veränderung mit Ungewissheit, ob es nicht schon zu spät ist. Das größte Risiko ist es, sich nicht auf den Weg zu machen. 

Ohne externe Unterstützung wird die Optimierung einer Organisationsstruktur wohl nicht zu machen sein, oder doch? 

Selbstverständlich kann das jedes Unternehmen auch selbst, ohne die Hilfe eines Beraters, umsetzen, zu mindestens theoretisch. In der Praxis zeigt sich aber, dass die Wahl der Beratung eine essenziell wichtige Rolle spielt. Mit viel Erfahrung, geschultem Auge und Fingerspitzengefühl manövriert der Berater das Unternehmen durch die vielen Hindernisse, die die Organisation nicht kennt. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass der oder die Berater sich aktiv als ein Teil der Projektteams mit einbringen. Eine reine Trainer- oder Coachingrolle birgt vor allem am Anfang Risiken, dass sich die positive Dynamik nicht so recht entfalten kann oder will. In einer aktiven Rolle kann der Berater schneller Hindernisse erkennen und gegensteuern. Je erfolgreicher und fortgeschrittener die Umsetzung vorankommt, desto mehr zieht sich der Berater in seiner aktiven Rolle zurück und wird Coach und Ansprechpartner. Dieses Vorgehen hat sich insbesondere bei mittelständischen Unternehmen als erfolgreich erwiesen, da hier die Ressourcenverfügbarkeit schwieriger ist als bei Konzernen.

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