In diesem Jahr geht der erste Jahrgang der sogenannten Babyboomer nach und nach in Rente, die 1958 Geborenen. Das hat Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Sozialversicherungen – der Mangel an Fachkräften und nicht besetzbare Ausbildungsplätze sind ein viel diskutiertes Thema im Mittelstand. Unsere Redaktion RATIO KOMPAKT hat dazu Doris Söhnlein befragt. Die Expertin befasst sich am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit mit Prognosen und gesamtwirtschaftlichen Analysen. Ihre Einschätzung: „Um der demografisch bedingten Schrumpfung am Arbeitsmarkt entgegenzuwirken sollte ein ganzes Bündel an Maßnahmen ergriffen werden. Mehr Qualifizierung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, umfassendere Integration von Migrantinnen und Migranten und aktive Teilnahme von älteren Beschäftigten am Erwerbsleben sind schließlich nicht nur für den Arbeitsmarkt sehr wünschenswert.“ Letzteres müsse nicht zwangsläufig mit einer Verschiebung des Renteneintrittsalters einher gehen.

RATIO KOMPAKT: 2023 ist ein besonderes Jahr. Der Jahrgang der 1958 Geborenen erreicht die Altersgrenze von 65 Jahren. Nach und nach geht dieser erste Babyboomer-Jahrgang in Rente, weitere geburtenstarke Jahrgänge folgen. Es gehen also mehr Menschen in Rente als es Schulabgänger gibt. Frau Söhnlein, Sie beschäftigen sich am Institut für Arbeits- und Berufsforschung mit dem demografischen Wandel und den Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Womit müssen die Unternehmen für die kommenden Jahre rechnen?                                                                                                                                  Doris Söhnlein: Die Zahl der offenen Stellen ist schon jetzt auf Rekordniveau, und Betriebe haben bereits Probleme bei der Besetzung. Bis 2035 werden voraussichtlich noch bis zu sieben Millionen Personen weniger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, jedenfalls ohne Zuwanderung und steigende Erwerbsbeteiligung. Aber auch unter realistischen Annahmen ist von einem Rückgang von etwa drei Millionen Arbeitskräften in den nächsten 20 Jahren zu rechnen, nachzulesen in unserem IAB-Kurzbericht 25/2021. Bis 2060 sind das noch einmal um die sechs Millionen. Denn auch wenn die Babyboomer längst in Rente sind, ist der weitere Rückgang absehbar, da die Geburtenrate hierzulande weiterhin unter einem bestandserhaltenden Niveau liegt.

Der demografische Wandel hat nicht nur auf den Arbeitsmarkt starke Auswirkungen, sondern auch auf die Rentenversicherung - die künftigen Rentner fehlen auch als Beitragszahler. Müssen wir uns auf gravierende Finanzierungsprobleme einstellen?
Die Probleme, die fehlende Arbeitskräfte nach sich ziehen, sind vielfältig. Neben Finanzierungsproblemen bremsen fehlende Fachkräfte jetzt schon beispielsweise Bau- und Gastgewerbe. Es drohen eventuell Betriebsschließungen oder Verlagerungen, was die gesamtwirtschaftliche Lage weiter zuspitzten würde. Um die Finanzierungsproblematik in der Rentenversicherung zu veranschaulichen, kann beispielsweise der sogenannte Altenquotient herangezogen werden. Nach unseren Berechnungen ist in den nächsten 20 Jahren mit einem kräftigen Anstieg von derzeit etwa 44 auf über 60 zu rechnen. Das bedeutet, dass 100 Erwerbspersonen heute die Rente von 44 Personen finanzieren müssen, in 20 Jahren die Rente von mehr als 60 Personen. Im Jahr 1990 lag der Quotient noch bei etwa 28.

Kann der Trend gestoppt werden, wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf insbesondere für Frauen verbessert würde?
Den Trend stoppen können dahingehende Maßnahmen alleine sicherlich nicht. Aber ja, um einer sinkenden Zahl an Erwerbspersonen entgegenzuwirken, müssen möglichst alle Potenziale ausgeschöpft werden. Eine verbesserte Vereinbarung von Familie und Beruf kann dazu beitragen, eine höhere Erwerbsbeteiligung oder längere Arbeitszeiten zu realisieren.                                                                                      
Wäre die Verlängerung der Arbeitszeiten das Mittel der Wahl?
Auch die Ausdehnung der Arbeitszeit kann hilfreich sein. Immerhin arbeiten mehr als die Hälfte der Arbeitnehmerinnen in Teilzeit. Und tatsächlich ist es so, dass viele Teilzeitbeschäftigte und auch Minijobber gerne länger arbeiten würden, das geht aus einer Auswertung des „sozio-ökonomischen Panels SOEP“ und der IAB-Arbeitszeitrechnung hervor.

Diskutiert wird ja immer wieder der notwendige Zuzug von Menschen aus dem Ausland. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020 war eine politische Antwort auf den demografischen Wandel. Was zeigen Ihre Prognosen bezüglich Migration?
Migration ist auf jeden Fall ein starker Hebel zur Fachkräftesicherung. Und das Gesetz geht deshalb auch in die richtige Richtung. Unsere Prognosen zeigen, dass erst bei einer durchschnittlichen Nettozuwanderung von jährlich 400.000 Migrantinnen und Migranten das derzeitige Niveau an Arbeitskräften gehalten werden könnte. Auch wenn die Wanderungssalden in den letzten Jahren sehr hoch waren, ist das kaum zu erwarten. Deutschland muss weiter versuchen, attraktiv für qualifizierte Zuwanderer zu sein, vor allem aber auch versuchen, diese dann hier zu halten, also die Zugewanderten auch gut zu integrieren in Gesellschaft und Arbeitsmarkt. Darüber hinaus ist es ja so, dass besonders Frauen mit ausländischer Staatsbürgerschaft eine bis zu 20 Prozent niedrigere Erwerbsbeteiligung haben als Frauen mit deutschem Pass. Auch hier könnte man ansetzen.

Wie bewerten Sie Inves­titionen in die Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und eine weitere Verschiebung des Renteneinstiegsalters, also die Erhöhung der Erwerbsquote Älterer?
Die Anforderungen am Arbeitsplatz werden künftig tendenziell steigen. Investitionen in Qualifizierung sind für eine Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials deshalb unabdingbar. Auch eine weiter steigende Erwerbsbeteiligung Älterer ist durchaus wünschenswert. Allerdings muss das nicht zwangsläufig mit einer Verschiebung des Renteneintrittsalters einher gehen. Vielmehr muss älteren Beschäftigen möglichst gut und lange die Integration im Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Stichwort ist auch hier wieder Qualifizierung und natürlich die Anpassung der Arbeitsbedingungen. Um der demografisch bedingten Schrumpfung am Arbeitsmarkt entgegenzuwirken, sollte ein ganzes Bündel an Maßnahmen ergriffen werden. Mehr Qualifizierung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, umfassendere Integration von Migrantinnen und Migranten und aktive Teilnahme am Erwerbsleben durch Ältere sind schließlich nicht nur für den Arbeitsmarkt sehr wünschenswert.

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