„Es gibt keinen natürlichen Widerspruch zwischen Markt und Nachhaltigkeit“, sagt Prof. Franz Josef Radermacher. Der Globalisierungs- und Technologieexperte setzt sich seit langem für eine weltweite Ökologisch-soziale Marktwirtschaft ein, in der weder soziale noch ökologische Kosten auf andere abgewälzt werden können. Im Interview mit RATIO kompakt sagt Radermacher, Mitglied des Club of Rome und der Kommission Nachhaltiges Wirtschaften, Handeln und Finanzen des Bundes: „Die Pandemie, die uns im Moment trifft, hat sicher auch etwas mit teilweise unerträglichen sozialen und ökologischen Bedingungen in den ärmeren Ländern zu tun. Wir zahlen jetzt also indirekt einen Preis dafür, dass die Verhältnisse auf der Welt nicht besser organisiert sind.“ Prof. Radermacher betont: „Die reichen Länder sind gefordert, den ärmeren Ländern bei dieser Herkulesaufgabe zu helfen“ – ähnlich wie der Länderfinanzausgleich in Deutschland.

RATIO kompakt: Herr Prof. Radermacher, Sie setzen sich für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft ein. Was verstehen Sie darunter?

Prof. Radermacher: Märkte leben von Wettbewerb unter vorgegebenen Rahmenbedingungen bzw. Regelsystemen. Das ist wie im Sport. Wettbewerb ist wichtig für die Performance, im Fußball, im Handball oder bei Feldhockey. Aber ob das Spiel Fußball, Handball oder Feldhockey ist, liegt nicht am Wettbewerb, sondern liegt einzig an den Regeln. Der Charakter eines Marktes wird also durch die Regelsysteme bestimmt, unter denen der Wettbewerb stattfindet. Wir bekennen uns in Deutschland zur Sozialen Marktwirtschaft. Sie ist nach dem 2. Weltkrieg aufgebaut worden. Sie kombiniert den Wettbewerb in Märkten mit einer starken sozialen Orientierung. Zu dieser gehört z. B. ein Sozialsystem, die allgemeine Schulbildung, Krankenkassen oder in der Großindustrie die Vertretung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten der Unternehmen. In den letzten Jahrzehnten hat zusätzlich das ökologische Thema an Bedeutung gewonnen. Wir legen also großen Wert darauf, dass das Wirtschaften so passiert, dass wir dabei versuchen, die Umwelt und zunehmend auch das Klimasystem zu schützen. Die Ökosoziale Marktwirtschaft oder auch die Ökologisch-soziale Marktwirtschaft ist also die Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft um die Berücksichtigung ökologischer Anliegen. Wir reden dann also über eine Marktwirtschaft, die so organisiert ist, dass ökologische und soziale „Leitplanken“ beachtet werden, während gleichzeitig unter Wettbewerb in den Märkten operiert wird.

Markt und Nachhaltigkeit: Ist das nicht ein Widerspruch?

Nein es gibt keinen natürlichen Widerspruch zwischen Markt und Nachhaltigkeit. Richtig verstanden bedeutet ja Nachhaltigkeit, dass man soziale, ökologische und auch kulturelle Anliegen in das Marktgeschehen internalisiert, und zwar über Regelwerke, Anreize, Bestrafungen etc. Das sogenannte Dreieck der Nachhaltigkeit bedeutet die gleichzeitige Beachtung von ökonomischen, sozialen und ökologischen Anliegen. Das übliche Konstrukt ist die Ausstattung der Märkte mit „Leitplanken“ sozialer und ökologischer Art. Der Wettbewerb und die Wertschöpfung in den Märkten erfolgte dann unter Beachtung der gesetzten Leitplanken. Ökonomisch drückt man das auch wie folgt aus: in einem vernünftig organisierten Markt sollte keine (vermeintliche) Wertschöpfung durch Externalisierung von Kosten möglich sein. Man sollte also weder soziale noch ökologische Kosten auf andere abwälzen können. Preise sollten also die Wahrheit sagen. Markt und Nachhaltigkeit bedeuten also eine Marktwirtschaft, die Externalisierungen über geeignete Mechanismen ausschließt. 

Wir bemühen uns z. B. in Europa, Markt und Nachhaltigkeit in Übereinstimmung zu bringen. Dabei haben wir aber große Probleme mit unserer Einbettung in die internationale Ökonomie. Denn die internationale Ökonomie ist durchweg nicht ökologisch-sozial geordnet. Deshalb setzen wir uns für eine weltweite ökosoziale Marktwirtschaft ein. Eine solche gibt es aber bis heute nicht. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass es auf der Welt sehr große Unterschiede im Wohlstandsniveau gibt. Es liegt bei dieser Ausgangslage im natürlichen Interesse ärmerer Länder, ihre sehr viel niedrigeren Standards zu einem Wettbewerbsvorteil zu machen. Diese Länder sind ja mit der harten Konkurrenz der reichen Länder konfrontiert, die viele Vorteile aufweisen und in der Regel für viel höhere Standards votieren. Aus der Sicht ärmerer Länder werden aber solche höheren Standards verständlicherweise als eine Methode der reichen Länder gesehen, ihnen ihren wichtigsten Wettbewerbsvorteil zu nehmen. Wir haben etwa beim Klima heute die Situation, dass die ärmeren Länder für sich das Recht beanspruchen, dass sie weiterhin CO2 ohne Abgabelast in die Atmosphäre entlassen dürfen, weil sie damit ja nur nachholen, was die reichen Länder seit 150 Jahren vorexerziert haben. Die reichen Länder haben in diesem Sinne lange Zeit ihre Klimakosten in erheblichem Umfang externalisiert und so ihren Wohlstand aufgebaut. Die Nachteile in Form der zunehmenden Erwärmung tragen vor allem die Menschen in den ärmeren Ländern. Das ist extrem ungerecht.

Kapitalismus funktioniert global betrachtet im Wesentlichen durch exzessiven Rohstoffverbrauch auf Kosten von Umwelt und Natur und bei möglichst niedrigen sozialen Standards. Wie wollen Sie dieses System überwinden, was sind die Hebel?

Sie beschreiben, wie der Kapitalismus bisher (global) funktioniert. Ja, bis heute funktioniert er insbesondere durch „Plünderung“, oder anders ausgedrückt durch Externalisierung von Kosten zu Lasten von Umwelt und Natur und auch zu Lasten von Menschen als soziale Thematik. Das ist das System, das man überwinden müsste. Und im Prinzip auch überwinden kann. Denn Kapitalismus kann auch anders organisiert werden, z. B. grün und inklusiv (eine andere Formulierung für ökosozial). Es ist allerdings schwer, das heute etablierte System zu überwinden, denn dann müsste man sich in der Welt als eine Gemeinschaft verstehen, dann müsste man versuchen, unter gemeinsam vereinbarten, klugen Regeln vom ökosozialen Typ zu arbeiten. Das geht nur schrittweise und insbesondere nur dann, wenn der reichere Teil bereit ist, erhebliche finanzielle Transfers in ärmere Teile der Welt zu leisten. So etwa, wie wir das mit dem Länderfinanzausgleich in Deutschland machen. Aber die Bevölkerungen der reichen Länder sind nicht bereit, in diese Richtung zu gehen. Sie sperren sich massiv. Wir tun uns ja als Deutschland sogar in der EU schwer, mehr in sozialen Ausgleich innerhalb der EU zu investieren. Wenn man das aber nicht tut, dann muss man letzten Endes damit leben, dass es weiter „Plünderungsprozesse“ geben wird. Die Pandemie, die uns im Moment trifft, hat sicher auch etwas mit teilweise unerträglichen sozialen und ökologischen Bedingungen in den ärmeren Ländern zu tun. Wir zahlen jetzt also indirekt einen Preis dafür, dass die Verhältnisse auf der Welt nicht besser organisiert sind. 

Sie engagieren sich hierfür seit Jahrzehnten, als Vorstand im Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung/n (FAW/n) seit 2004, sehen Sie dennoch erste Erfolge?

Es hat sich in der Zeit viel getan, es gibt ein immer weiter gehendes Verständnis dafür, dass wir zu Abstimmungen der beschriebenen Art in weltweiter Perspektive kommen müssen. Etwa bezüglich der Durchsetzung der Menschenrechte. Das aktuell in der Verabschiedung befindliche deutsche Lieferkettengesetz fällt in diese Thematik. Die Pandemie bringt einen Schub an mehr Verständnis in diese Richtung. Bill Gates beschreibt dies sehr schön in seinem aktuellen Buch „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern: Welche Lösungen es gibt und welche Fortschritte nötig sind“. Die Millenniums-Entwicklungsziele thematisieren die beschriebenen Anliegen und im Paris-Vertrag spielt ein Weltklima-Finanzausgleich eine große Rolle. Vor allem die letzte Finanzkrise hat ein großes Umdenken zur Folge gehabt. Die OECD, also die Organisation der reichen Länder, genauso wie die Weltbank und der internationale Währungsfonds diskutieren jetzt offensiv, dass der Kapitalismus stärker inklusiv und grün werden muss. Dass man sich also stärker um die Balance der Einkommen kümmern muss, dass man Aufholprozesse im Süden fördern sollte, und dass wir vor allem die Belastungen der Umwelt internalisieren müssen, weil wir sonst weder beim Klima, noch bei der Agenda 2030 (z. B. Schutz der Biodiversität) weiterkommen. Und das gilt ebenso für das nach wie vor dramatische Wachstum der Größe der Weltbevölkerung, das wieder durch Armut befördert wird.

Die Agenda 2030, die sogenannten globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen, bildet seit 2015 den international akzeptierten Handlungsrahmen für nachhaltige Entwicklung. Die Erfolgsbilanz ist doch eher bescheiden.

Sie haben Recht. Die Agenda 2030, also die weltweiten Nachhaltigkeitsziele, werden bisher kaum umgesetzt, wie übrigens schon zuvor die MDGs, die Millenniums-Entwicklungsziele. Dabei war die Ausrichtung der MDGs klüger. Bei den MDGs ging es insbesondere darum, dass die größten Probleme in den ärmeren Ländern überwunden werden sollten. Es wurde in diesem Kontext klar gesagt, dass die reichen Länder gefordert sind, den ärmeren Ländern bei dieser „Herkulesaufgabe“ zu helfen.

Die Robert Bosch GmbH stellte sich als erstes großes Industrieunternehmen bereits ab 2020 klimaneutral. Und Kühne + Nagel plant als weltweit größter Logistiker im Bereich internationaler Containerverschiffung die Klimaneutralität all seiner Container-Aktivitäten in Zusammenarbeit mit seinen Kunden bis 2030. Vorbild für den Mittelstand? Ziehen jetzt die mittelständischen Unternehmen nach?

Ich freue mich sehr über die sehr effiziente und kurzfristig durchgezogene Klimaneutralitätsstellung der Robert Bosch GmbH. Das war das erste Mal, dass ein großes produzierendes Industrieunternehmen einen so bedeutsamen Schritt getan hat. Ich freue mich auch sehr über die Planungen und Aktivitäten von Kühne + Nagel. Das ist das weltweit größte Logistikunternehmen im Bereich der internationalen Containerverschiffung. Beide Unternehmen arbeiten übrigens mit in der Allianz für Entwicklung und Klima des Bundesministeriums für internationale Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ). Wir unterstützen von Seiten des FAW/n dieses große Projekt, das mittlerweile in eine Stiftung überführt wurde, von der wissenschaftlichen Seite. In diesem Projekt verpflichten sich Unterstützer, dass sie gut über internationale Kompensationsmaßnahmen reden und sich auch aktiv an solchen beteiligen. Diese internationalen Kompensationsmaßnahmen sind Investitionen in kluge Projekte in Nicht-Industrieländern, die im Sinne der ökonomischen Theorie eine freiwillige Internalisierung verursachter externer Kosten darstellen. Ich freue mich sehr, dass es auch viele mittelständische Unternehmen gibt, die sich an dieser Stelle ganz selbstverständlich engagieren. Ich erwähne hier als Beispiel aus meinem eigenen Umfeld die ZwickRoell GmbH in Ulm. Interessant ist aber z. B. auch das Klimaneutralitätsbündnis mittelständischer Unternehmen im Allgäu. Es gibt auch ein entsprechendes Bündnis in Vorarlberg/Österreich. 

Kommt nach der Überwindung der Coronakrise der Einstieg in nachhaltiges Wachstum?

Es ist heute bei Intellektuellen und in der Politik eine beliebte „Denkfigur“ darüber zu spekulieren, dass wir nach der Krise wie Phönix aus der Asche mit nachhaltigen Ansätzen nach vorne gehen sollen. Ich halte wenig von diesem Bild. Zum einen, weil Nachhaltigkeit neben dem Schutz von Umwelt und Klima vor allem die nachholende Entwicklung der ärmeren Länder zum Thema haben muss. Man müsste sich hierzu stark international engagieren. Das ist meistens nicht der Fokus der Vorschläge. Der Fokus liegt vielmehr in Europa. Wir haben ganz viele Corona-Verlierer in Europa, viele haben ihre Existenz verloren. Wir haben bereits enorme Schulden aufbauen müssen. Mit noch mehr Schulden versuchen wir jetzt, wieder Fahrt aufzunehmen. Dies bringt dann viele auf die Idee, jetzt ihre alten Lieblingsprojekte gleich mitbedienen zu lassen, also mit diesem Geld jetzt die Nachhaltigkeit nach vorne zu bringen. Dann wird mit weiteren Schulden Elektromobilität gefördert, z. B. durch staatliche Mitfinanzierung von Aufladepunkten für Elektroautos. Dafür wird dann das (geliehene) Geld eingesetzt, das eigentlich dafür gedacht ist, uns aus der Krise zu bringen und vor allem den vielen Verlierern der Krise zu helfen. 
Mir ist an dieser Stelle wichtig, dass vieles von dem, was bei uns für Umwelt und Klima geplant wird, vor allem viel Geld kostet und unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit bedroht. Das wird weitere Löcher reißen, wo wir doch die Löcher wieder schließen wollen und sollten, die Corona gerissen hat und nicht in Richtung von mehr Verarmung marschieren sollten, selbst wenn das gut für die Umwelt wäre. 

Grüner Strom ist letzten Endes auf der Ebene der Funktion (nur) Strom, es ist funktional nichts anders als vorher, wenn Strom grün wird. Natürlich ist das gut für die Umwelt, natürlich ist das eine Internalisierung externer Kosten, aber im praktischen Nutzen ändert sich nichts. Man kann das auch so ausdrücken: wir haben dann weniger zu konsumieren, weil wir besser mit der Umwelt umgehen. Das ändert aber natürlich nichts daran, dass sich unsere ökonomische Lage dadurch verschlechtert. Und wenn wir das in einer Welt tun, in der andere sich nicht in gleicher Weise orientieren, dann verlieren wir Wettbewerbsfähigkeit. In der Folge wird viel Industrie im Sinne eines Carbon-Leakage aus der EU herausgehen. Das droht z. B. bei Stahl. Dabei bleiben die Belastungen für das (Welt-)Klima dieselben. Wir haben dann eine Situation, in der wir dem Klima nicht wirklich helfen, viele Arbeitsplätze verlieren, insgesamt ärmer werden und das ist dann unser Programm in Richtung Nachhaltigkeit. Zugegebenermaßen ist ein reduzierter Lebensstil, wenn man damit zufrieden ist, ein Beitrag zu Nachhaltigkeit. Wenn aber die Menschen in anderen Staaten dabei nicht mitmachen, nutzt das alles nur wenig. Als Methode, die schweren Schläge, die wir wegen Corona ertragen müssen, geeignet zu substituieren, ist ein solches Programm nicht geeignet. Ich gehe allerdings davon aus, dass der Druck der Realität, vor allem der Druck der leeren Kassen dazu führen wird, dass wir vieles von einem solchen Programm, was heute politisch aufgeregt diskutiert wird, letztlich nicht verfolgen werden. Aus meiner Sicht ist das aktuell dann auch der klügere Ansatz. 

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